Wir begrüßen Frau Julia Schleinich, staatlich anerkannte Logopädin seit 1986,
Inhaberin und Leitung der Praxis (w)ort,, ICHselbstAG-Coach seit 2006.
Frau Schleinich betrachtet ihr rund 42 Personen umfassendes Publikum und möchte wissen, warum wir hier sind.
Aus Gewohnheit?
Wegen dem hervorragenden Essen?
Wegen einer Frau Schleinich, von der man schon mal gehört hat?
Oder weil wir erfahren haben, dass eine Familie aus Bayern mit ihrer Tochter Jule einen ganz besonderen Weg geht, der uns neugierig macht?
Ein Weg mit FC.
Was ist FC? Doch auf die Antwort müssen wir noch etwas warten.
Mit großer Ruhe beschreibt Frau Schleinich das erste Blatt am Flipchart:
Julia Schleinich... scheibt sie.
10.30 – 11.45 Uhr,
Essen,
13.00 – 15.00 Uhr,
Kaffee
Währenddessen steigt der Geräuschpegel durch Lautsprache im Saal an.
Frau Schleinich ruft uns ins Bewusstsein, dass Informationen über das Ohr schnell verloren gehen. Beständiger ist die Information über Schrift. So können wir uns jederzeit mit Blick auf den Flipchart der Struktur des heutigen Vortrages vergewissern.
Frau Schleinich zeigt uns ein Bild, drei Kinder die Grimassen schneiden. Die erste Aufgabe für die Zuhörer besteht darin, einen Satz über das Bild aufzuschreiben. Eigentlich eine klare einfache Aufgabe, die man leise erledigen kann. Trotzdem steigt wieder der Geräuschpegel im Saal deutlich an.
Einige Eltern tragen anschließend ihre Sätze vor:
„So sind Kids.“ textet ein Vater.
„Sie haben Spaß miteinander.“ ein anderer.
„Das gefällt mir nicht weil die Kinder keine glücklichen Augen haben.“ hat ein dritter Vater geschrieben.
Ein neues Blatt am Flipchart wird aufgeschlagen und Frau Schleinich zeichnet Strichmännchen, deutet die Interaktionen der Kommunikation zwischen diesen mit Pfeilen an.
Kommunikation besteht aus Schriftsprache, Lautsprache, Körpersprache. Zur Körpersprache zählen Haltung, Blicke, Augenkontakt, Weinen, Lachen, Körperzugewandtheit oder Körperabgewandtheit, Gestik, Mimik.
Frau Schleinich stellt die Behauptung auf, dass alle Eltern im Saal mit ihren Rett-Kindern ein Kommunikationsproblem haben. Unsere Kommunikation sei eine Einbahnstraße. Es fehlt die Wechselseitigkeit.
Sofort kommen Einwände von den Eltern, das stimme nicht. Es finde Kommunikation statt auf vielerlei Wegen. Natürlich haben wir recht, räumt Frau Schleinich ein, Kommunikation findet statt, niemals fließt nichts, doch der Austausch ist zumindest stark eingeschränkt und begrenzt. Dem möchte nun niemand mehr widersprechen, da es die Wahrheit ist.
Unsere eingeschränkte Art der Kommunikation mit unseren Kindern erfordert Interpretation. Interpretation durch uns, erklärt Frau Schleinich.
Wie erkennen wir denn zum Beispiel Bedürfnisse beim Säugling? Wir interpretieren sein Schreien, sein Strampeln, sein Quäken. So haben Menschen schon immer intuitiv die Bedürfnisse von Babys erfasst. Doch schreien, strampeln und quäken wird normalerweise eines Tages durch Lautsprache ersetzt. Beim gesunden Kind.
Nicht so bei Menschen, die eine neurophysiologische Bewegungseinschränkung haben, wie Kinder mit Rett-Syndrom. Hier kommt zuwenig zurück an Kommunikation. Und leider gibt man selbst dann immer weniger in Richtung des Kindes (Frau Schleinich weist nochmals auf die Strichmännchen in Interaktion), man stellt die Kommunikation schrittweise ein. Ein blödes Gefühl findet Frau Schleinich und alle nicken frustriert. Aber wir Eltern kommen doch noch lange klar mit der Situation, oder?
Ja, wir kommen klar, aber spätestens ab dem Kindergarten und der Schulzeit interpretieren noch andere mit. Erzieher, Lehrer, Betreuer. Sie schreiben ihre eigene Interpretation ins Mitteilungsheft und urteilen primär nach Körpersprache und Stimme. Wie auch sonst?
Auf dem dritten Blatt des Flipchart entsteht ein gezeichnetes Menschlein mit Ohren, Augen und Konturen. Kleine Pfeile deuten Input und Output über verschiedene Kanäle an. Die Ohren, die Augen, die Haut.
Der Input, betont Frau Schleinich, funktioniert immer. Bei jedem Menschen.
Zwar können wir unsere Augen schließen, doch der Input läuft weiter über die Ohren. Die Ohren können wir versuchen zuzuhalten, wenn wir die Handfunktion dazu haben. Wir können ansonsten nur filtern oder auf Durchzug stellen. Das Filtern ist aber bereits eine anspruchsvolle Hirnfunktion, die Energie kostet und Anstrengung erfordert. Sprich Stress erzeugt.
Der Input läuft.
Mit den Ohren hört der Mensch um die Ecke, durch Büsche, durch Wände und Decken. Sie sind wichtig zu Sicherung vor Gefahr.
Auch für nichtsprechende Menschen sind die Ohren sehr wichtig. Nichtsprechende Menschen hören genauso. Das vergessen wir leider gern wenn ein Mensch nicht spricht.
Wir sprechen zu laut. Obwohl bekannt ist dass die Filterfunktion bei neurologischen Patienten eingeschränkt ist und Stress erzeugt, schreien wir diese Menschen oft nahezu an.
Der Input funktioniert also gut bei neurophysiologischer Bewegungseinschränkung. Beim Rett-Syndrom eher sogar zuviel. Unsere Mädchen kneten, waschen und wringen stets ihre Hände. Dies erzeugt eine Art Input, der aber falsch im Sinne von nutzlos anzusehen ist. Ihre Anstrengung führt nicht zum gewünschten Output, sondern blockt eher.
Der Output ist das Problem bei unseren Kindern mit Rett-Syndrom. Auf Ebene der Lautsprache und auf Handlungsebene. Jeder Mensch hat einen Körper. Der Körper hat Aufgaben. Das Tun. Tun ist verknüpft mit Empfinden und Empfinden wird bewertet als Gefühl. Jeder Mensch hat Seele im Sinne von einer Gefühlswelt.
Frau Schleinich marschiert auf die erste Reihe ihrer Zuhörer zu und kneift eine Mutter ins Bein, eine andere Frau in den Arm. Beide reagieren nicht ganz wunschgemäß, viel zu nachsichtig und freundlich, einfach zu nett, um den Sinn der Demonstration aufzuzeigen. Ein empörtes „Aua“ wäre die zu erwartende Reaktion gewesen. Plötzliches Kneifen von Anderen empfinden wir normalerweise als nicht angemessen und grenzüberschreitend.
Plötzliche Berührung löst Gefühle aus. Ob wir diese Gefühle als gut oder schlecht empfinden, bewertet unser Geist. Gemäß unserem Denken, unserem Glauben und unserer Überzeugung. Kleinkinder übernehmen unsere Bewertung. Z. B. leiten sie aus unserer Reaktion auf kleine Ungeschicklichkeiten, wenn ein Kind beim Laufenlernen hinpurzelt, ab, ob der tollpatschige Sturz als gefährlich oder harmlos einzuordnen ist.
Wie können wir nichtsprechenden Menschen die Möglichkeit zur Kommunikation geben?
In einer logopädischen Praxis fordern Eltern häufig das sofortige „Sprechenlernen“.
Die tiefgründige Frage, wann denn dieses Ziel erreicht wäre – mit den ersten Zweiwortsätzen und einfachen Ja/Nein-Antworten oder erst ab der fünften Fremdsprache, offenbart die ganze Vielschichtigkeit des Entwicklungsprozesses der Lautsprache.
Mit der nächsten Übung erfahren wir die komplizierten Nuancen allein in der Mundmotorik, um eine einfaches Wort wie PUTE (hier abgeleitet vom Mittagsmenü unserer Veranstaltung – nämlich Putengeschnetzeltes) zu bilden. Wir spüren unseren Bewegungen von Zunge, Lippen und Kiefer nach wenn wir die einzelnen Buchstaben des Wortes bilden... P U T E
Bewusst analysiert scheint die Bewegungsfolge ganz schön kompliziert. An das Wort „Putengeschnetzeltes“ ist ja gar nicht zu denken, das sprengt schon den Rahmen der Vorstellung, wenn man da jeden einzelnen Buchstaben in seine Bewegungsfolge spalten müsste. So leisten wir bereits rein motorisch erstaunliches beim Artikulieren. Hinzu kommt beim flüssigen Sprechen der schnelle Ablauf innerhalb Bruchteilen von Sekunden, dazu Vorstellungen und Bilder in unserem Kopf vom geschriebenen Wort Pute bis hin zum Bild des Federtieres, dazu die komplexe Leistung des Gehirns für das Zusammenspiel dieser Gedanken mit Motorik, Atmung, Ton und der gleichzeitigen Kontrolle über die Ohren.
Nichtsprechende Menschen können diese Prozesse nicht steuern. Das bedeutet aber NICHT, dass das Denken nicht funktioniert. Diesen Fehlschluss ziehen wir nur allzu leicht bei Menschen, die nicht sprechen.
Hier kommt UK ins Spiel und das vierte Blatt auf dem Flipchart erhält einen großen schwungvoll gezeichneten Bogen, eine Art Dach. Unter diesem großen Dach für Unterstützte Kommunikation siedelt sich an die Punktschrift für Blinde, Gebärden für Gehörlose, Symbole, elektronische Kommunikationsgeräte und die FC.
FC steht für facilitated Communication und wird zu deutsch mit gestützte Kommunikation übersetzt.
Die Entdeckung von FC und ihr Weg nach Deutschland begann 1977 mit Rosemary Crossley. Diese australische Autorin und Anwältin für Behindertenrechte und erleichterte Kommunikation versuchte einem schwerbehinderten Mädchen Symbole beizubringen, und entdeckte dabei die Wirkung der Stütze. Rosemary Crossley leitete nach weiteren Erfahrungen mit anderen schwerbehinderten Menschen die Methode FC ab.
1986 – Gründung des DEAL-Center in Melbourne unter ihrer Leitung. Anwendung von FC bei unterschiedlich behinderten Menschen.
1989 - Prof. Douglas Biklen, Universtität Syracuse NY, besucht das DEAL-Center
1990 – fasziniert von der Methode publiziert Prof. Biklen dazu in den USA
1990 - eine Mitarbeiterin von Prof. Biklen, Annegret Schubert, hält in Berlin ein FC-Seminar. Daraufhin beginnen in Deutschland einige Eltern und Therapeuten erfolgreich die Arbeit mit FC. Auch eine Frau A. Sellin mit ihrem autistischen Sohn Birger.
1992 – Gründung des FC-Institut Syracuse durch Prof. Biklen.
1994 – ein Buch wird veröffentlicht – Facilitated Communication Training“ die Autorin ist Rosemary Crossley.
1997 - erscheint die deutsche Übersetzung im Beltz Verlag unter dem Titel „Gestützte Kommunikation, ein Trainingsprogramm“.
FC ist eine Strategie, um Menschen mit schweren Kommunikatiosstörungen und neuromotorischen Beeinträchtigungen zu befähigen, auf Items wie Objekte, Bilder, Symbole, Wörter oder Buchstaben zum Zwecke der Kommunikation zu zeigen (Eichel 1999).
FC ist ein neurophysiologischer Ansatz mit primärer Sicht auf den Körper. Hauptsächlich eingesetzt bei Autisten und anderen Behinderungen, die mit Dyspraxie einhergehen. Dyspraxie – Schwierigkeiten Handlungsabläufe zu steuern und zu kontrollieren.
Frau Schleinich arbeitet in ihrer Praxis umfassend. Bei Verständigungsschwierigkeiten auf lautsprachlicher Ebene setzt sie die Schriftsprache zur Aufklärung ein. Als Beispiel schildert sie einen Vorfall bei der Arbeit mit dem Rett-Mädchen Jule. Jule versetzte in einer Übungsstunde der Logopädin einen kleinen Schlag mit der Hand aus dem sich folgender Dialog entspann:
„“Wieso haust du mich?“
„Du weißt immer alles.“ antwortet Jule per Schreibtafel.
Das Rett-Mädchen hatte sich der Körpersprache bedient, um sich mitzuteilen und lieferte anschließend eine Erklärung per Schreibtafel.
Vielschichtiger noch als Schriftsprache ist die Lautsprache. Wo Schriftsprache auf das Alphabet begrenzt bleibt, enthält Lautsprache Abstufungen durch Töne, Lautstärke und Betonung. Wenn nichtsprechende Menschen eine Möglichkeit zur Kommunikation erhalten, bessert sich oft auch schwieriges Verhalten. Das ist eine Erfahrung aus der Praxis.
Große Bedeutung kommt dem Lesen und Schreiben zu. Diese Fähigkeiten stellt man oft in Frage bei nichtsprechenden Menschen. Doch nicht nur der klassische Weg über das Lesenlernen in der Grundschule führt ans Ziel. Manche Menschen gehen ihren eigenen, sehr verschlungenen Weg. Schriftzeichen umgeben uns das Leben lang. Auf Werbeplakaten, Autokennzeichen, Beschriftungen... überall sind Buchstaben. Kinder nehmen sie von Anfang an wahr.
Wenn wir bei nichtsprechenden Menschen diese bereits aufgenommene Kenntnis der Bilder und Symbole nutzen zur Begleitung in die Schriftsprache, ergeben sich mannigfaltige Möglichkeiten der Kommunikation.
Es können Schmerzen oder Befinden mitgeteilt werden. Auswahlangebote eignen sich, den Schmerz zu lokalisieren.
Das Rett-Mädchen Jule wird gebeten eine Vorführung mit der Schreibtafel zu machen. Sie sitzt als Linkshänderin zur Rechten von Frau Schleinich, die Beine gut positioniert, aufrecht und entspannt. Ihr linker Unterarm wird gestützt. Sie textet über die Tafel den Satz „Ich bin froh, dass es FC gibt.“
Ihr Gesicht zeigt angestrengtes Denken. Es geht langsam. Jule muss viele Gedanken filtern während sie schreibt. Ihr Arm wird auf Mitte der Tafel gehalten, um alle Symbole und Zeichen gleich gut zu erreichen.
Jule hat ihren Satz beendet. Stolz strahlt aus ihren Augen. Frau Schleinich dankt ihr und bietet Jule an, entweder das Podium zu verlassen, um mit den anderen Kindern einen Spaziergang zu machen oder zu bleiben, falls sie noch etwas sagen will. Die Antwort folgt auf der Tafel und lautet „Ja“.
Jule will also noch etwas mitteilen. Sie strengt sich sehr an, aber es stockt. Frau Schleinich positioniert nochmals die Beine richtig. Sie erinnert Jule, die Augen auf die Tafel zu richten. Jule nimmt einen langen Anlauf und dann, in schneller Folge, tippt sie einige Buchstaben. Wieder lange Pause. Immer wieder wird sie erinnert, auf die Tafel zu schauen. Wieder tippt sie mehrere Buchstaben hintereinander. Die Blicke waren kurz auf dem Brett und haben es längst verlassen, während die Hand noch ihre Befehle ausführt und Buchstaben tippt.
So entsteht der Satz „Schade, dass noch nicht mehr schreiben.“ Frau Schleinich stellt den Satz grammatikalisch noch etwas um in „Schade dass nicht noch mehr schreiben.“ Doch der Inhalt, den Jule mitteilen wollte, ist offensichtlich.
Durch die Stütze des Unterarms kann eine Steuerungsproblematik ausgeglichen werden. Der Gedanke den Jule mitteilen möchte erscheint in Form von Buchstaben und Wörtern in ihrem Kopf, sie muss ihn während des Schreibens im Gedächtnis behalten. Das ist eine große geistige Leistung und die Stütze erleichtert ihr dabei die körperliche Anstrengung.
FC ist kein Wundermittel, mit dem plötzlich alles geht. Frau Schleinich sieht die Methode eher als Krücke, die aber Entwicklung möglich macht. Auch Simone, eine junge Frau mit Rett-Syndrom, arbeitet schon lange mit Frau Schleinich.
FC betrifft im Alltag nicht nur das Texten. Auch Auswahlverfahren sind sinnvoll. FC ermöglicht Unterstützung durch Auslöseimpuls, auch auf Handlungsebene. Davon profitieren alle Menschen mit Bewegungssteuerungsstörung (Dyspraxie). Menschen mit Rett-Syndrom gehören zu diesem Personenkreis. FC ist Steuerungshilfe. Um Gedanken über den Hals, die Schulter, den Arm, die Hand in die Finger zu bringen.
Wie Jule beim Schreiben es schafft, ihren Finger abzuspreizen, ist der Erfolg jahrelanger Übung. Es ist ihr nicht in den Schoß gefallen, das erfordert Training. Anfangs brauchte Jule für 3 Wörter eine Dreiviertelstunde. Geduld und Ausdauer führten ans Ziel dass es jetzt schneller geht. Jule, die sich als Kleinkind immer nach Möglichkeit selbst Bücher aus Regalen gezogen hat und diese konzentriert betrachtete, erhielt sehr früh die Möglichkeit, sich per Schreibtafel mitzuteilen und stellte bereits mit 4 Jahren die angstvolle Frage: „Bin ich geistig behindert?“.
Dennoch gibt es viele Menschen die anzweifeln, dass nichtsprechende Menschen tatsächlich Buchstaben kennen. Wie lernen sie das, möchte ein Zuhörer wissen. Frau Schleinich erklärt dass Kinder Buchstaben aus der Umwelt aufnehmen. Wir alle sind von Schriftzeichen umgeben. Jule suchte sich dazu gezielt noch ihre Bücher. Menschen wie Jule gehen andere Wege als die Norm. Sie verwenden ihre Energie nicht auf das Erlernen der Lautsprache, weil das bei ihnen nicht geht. Stattdessen konzentrieren sie sich auf die Buchstaben, die praktisch überall sind. Auf Tafeln, Schildern, Beschriftungen, Autokennzeichen nehmen wir sie bewusst oder unbewusst war. Menschen wie Jule beobachten, was andere tun, haben manchmal große Geschwister als Vorbilder und eifern beim Lesen nach. Bilderbücher, die man meist auch sogenannten geistig behinderten Kindern zeigt, enthalten auch Schrift. Jeder ist mit Schrift in Berührung von Geburt an.
Der Prozess des Lesenlernen geht über zwei Wege:
Beide Leseprozesse zusammen ergaben das Lesen lernen und das laute Vorlesen. Lesen ist Input. Auch ohne Lautsprache. Die Wahrnehmung läuft immer. Der Input läuft immer. Dennoch möchte eine Mutter, selbst Grundschullehrerin, wissen, wie sie ihrer Tochter mit Rett-Syndrom, 10 Jahre, gezielt die Buchstaben nahebringen kann.
Frau Schleinich zeichnet auf dem fünften Blatt des Flipcharts auf wie sich die Schriftsprache und die Lautsprache entwickeln. Auf der Basis der Wahrnehmung (5 Sinneskanäle spüren & Gleichgewicht & riechen/schmedcken & hören & sehen und deren Verarbeitung) läuft der Input über die Augen und über die Ohren gezielter weiter. Über die Augen nehmen wir Bilder, Symbole, Buchstaben und Wörter wahr, über die Ohren nehmen wir Stimme, Töne, Laute auf. Es entwickelt sich aus diesem Input die Lautsprache und eine Vorstellung von Schriftsprache. Ab dem Niveau der Schulfähigkeit greift unser Bildungssystem und holt die Kinder hier ab, um ihnen das Lesen und Schreiben in der Schule beizubringen.
Wenn die Lautsprache ausfällt, also der ganze rechte Zweig auf der Zeichnung wegfällt, setzt das Kind alles auf den anderen Zweig, die Schriftsprache. Der Weg zum Lesenlernen führt dann nur über die Augen.
Kinder mit Rett-Syndrom sind oft körperlich überfordert und kognitiv unterfordert. Um sie hinsichtlich der Schriftsprache zu fördern, können wir ihnen körperlich helfen (mit der Stütze) und ihnen geistig mehr Input geben. Um ihr Interesse zu wecken. Denn wie es die Mutter selbst schon ausdrückt, ihre Tochter sei mit 10 Jahren von den ewigen Symbolen gelangweilt. Frau Schleinich bestätigt, dass das verständlich sei und dass nun die Buchstaben neues Interesse bringen könnten.
Ein sehr UK-erfahrener Vater beschreibt, dass bei seiner Tochter alle Bezugs- und Betreuungspersonen den Tobii (augengesteuerter Computer) mitbenutzen und seine Tochter auf diese Weise lernt. Die Ganzworterkennung funktioniert hier schon gut. Diese Technik heißt Modelling. Dem unterstützt Kommunizierenden wird durch das Vormachen beim Bedienen des Kommunikationsgeräts ein Vorbild geboten.
Eine Mutter fragt wie man Rechtshändigkeit oder Linkshändigkeit der Rett-Tochter herausfinden kann. Durch konkretes Fragen, meint Frau Schleinich, oder Ausprobieren. Sie gibt einige Beispiele für deutliche Hinweise auf die dominante Hand. Da in diesem Fall jedoch die Mutter von sich selbst sagt, beidhändig zu sein, muss man bei der Tochter auch daran denken. Es gäbe grundsätzlich zunehmend mehr Beidhänder in unserer Gesellschaft, weiß Frau Schleinich.
Weitere Fragen der Eltern betreffen die Aufmerksamkeitsspanne für FC. Diese sei individuell erläutert Frau Schleinich. Im weiteren Gespräch mit den Eltern und der Referentin erfahren wir noch einige interessante Details.
FC als Orientierungshilfe. Können will gelernt sein. Wer Chancen zur Unterstützung der Kommunikation in der Einrichtung angeboten bekommt, sollte diese nutzen. Oft werden interne Fachdienste zur Kommunikation angeboten.
Die logopädische Therapie fängt normalerweise beim Sprechen an. Also wenn die Grundvoraussetzungen für Sprache teilweise erfüllt sind und die Sprachentwicklung auf dem Weg ist. Nur allmählich hält neuerdings das Wissen um Kommunikationsanbahnung bei nichtsprechenden Menschen und das Verständnis der neurophysiologischen Zusammenhänge seinen Einzug in die Ausbildung der Logopäden.
Jule habe anfangs sogar im fränkischen Dialekt geschrieben, was wirklich bemerkenswert ist. War sie unsicher bzgl. der Rechtschreibung, trat eine Blockade ein. Durch behutsame Hinweise in Sachen Orthografie ging es dann aber immer voller Elan wieder weiter. Jule ist sehr ehrgeizig und macht kaum noch Fehler. Bereits vor der Einschulung habe Jules Umfeld – die Eltern, die Lehrkräfte – Einführungskurse für FC belegt. Dieses tolle Engagement wird nun belohnt durch Jules Erfolge.
Eine andere Mutter bezeichnet ihre 11jährige Rett-Tochter als testresistent. Nicht feststellbar, ob Lesefähigkeiten vorhanden sind. Wichtig sei es ihr als Mutter, eine gemeinsame Ebene der Kommunikation zu finden, auf der beide glücklich sind.
Frau Schleinich definiert diese Forderung als weiteres Ziel für Kommunikation und ergänzt die fünfte Seite des Flipchart um diesen Satz.
Voraussetzung für FC auf körperlicher Basis ist auch gut positioniert zu sitzen, die Tagesverfassung spielt eine Rolle.
Die immer und überall offen geäußerte Kritik an FC betrifft – natürlich - die Manipulation. Frau Schleinich räumt ein, dass die Gefahr der Manipulation gegeben ist und dass es täglich geschieht. Bei FC, aber nicht nur bei FC. Jeder Mensch manipuliert laufend bewusst oder unbewusst andere Menschen.
FC kann man erlernen in Basiskursen. Die Teilnehmer erfahren alles über Basisimpulse (immer nach oben halten, nicht nach unten drücken), die der Aktivierung dienen. Sie lernen über Abgrenzung und Unterschiede von Stütze und Führung.
Frau Schleinich bevorzugt Tafeln gegenüber der Elektronik. Aus vielen praktischen Gründen, denn es gibt keine leeren Akkus, keine gesperrten Zugriffe, keine Ablenkung über Handy, Tablet, keine versehentlich falsche Seitenwahl, keine ungewollte Auslösung und vieles mehr.
Elektronische Hilfen mit Sprachausgabe schenken dem nichtsprechenden Mensch dagegen eine Stimme.
Eltern wollen wissen, wie sich der Druck durch Erwartungshaltung bei den Rett-Mädchen auswirkt, wenn sie gestützt schreiben. Erwartung sei normal, erklärt Frau Schleinich. Erwartung ist auch in anderen Situationen ein Aspekt innerhalb der Kommunikation. Sie ist gegenseitig und besteht auch seitens der Schreiber.
Die Schreibtafeln können beliebige Hintergrundfarben haben, probieren, was den Kindern gefällt. Beachtet werden sollte die Kontrastwirkung, die immer ausreichend sein muss.
Eine Mutter fragt, was tun, wenn das Kind die Angebote von FC oder UK abwehrt durch schreien, toben, weglaufen, verweigern. Erst mal prüfen, ob die Angebote überhaupt angemessen waren, sagt Frau Schleinich. Dem Kind erklären, was man mit ihm vorhat, ist auch ein wichtiger Punkt.
Denn zur Erinnerung – unsere Kinder können hören, können denken. Der Input läuft.
Protokoll: Herta Wechslberger abgestimmt mit Frau Schleinich, Fotos Ulli Dieckmann, Herta Wechslberger