Julius - Ein Geschwisterkind

Ich habe für Julius (und Marlene) ein Buch, in das ich in unregelmäßigen Abständen besondere Entwicklungsschritte und nette Begebenheiten aufschreibe. In der Zeit vom Dezember 2003 bis September 2004 ist ein großer Abstand.  In dieser Zeit war es für mich eine große Überwindung, nochmals in schriftlicher Form die traurigen Wochen und Monate der Diagnosephase zu wiederholen. Und dennoch war es gut.

Julius wurde gerade 3 Jahre alt als uns telefonisch die schlimme Diagnose mitgeteilt wurde. Meine Wut und Trauer war unermesslich. Und mein kleiner Sohn brachte mir in dieser Situation seine Spieluhr mit den Worten „Da Mama – nicht weinen.“ Bilder, die ich nie vergessen werde. Erst allmählich hat sich der Schock gelegt und dann war die Sorge um Marlene genau so groß wie um unseren Sohn: Wie können wir ihm gerecht werden? Wie wird er mit der Situation fertig? Wird er seine Schwester trotzdem lieben? Wie können wir das als Familie schaffen? Wird er nicht immer zu kurz kommen?

Beruhigend war für mich der erste Besuch bei Bärbel Ziegeldorf. Sie hat uns herzlich eingeladen und wir sind gerne gefahren. Wir waren sehr aufgeregt. Dann waren wir aber sehr positiv überrascht. Anne hat uns sofort angestrahlt und deutlich gezeigt, dass sie sich über Besuch freut. Ihr Vater Helmut hat uns genauso herzlich empfangen wie Bärbel. Der große Bruder Timo hat sich auch mal kurz blicken lassen und hat dabei seine Schwester begrüßt wie das Jugendliche in seinem Alter halt so tun. Wir waren unheimlich erleichtert, weil wir miterleben konnten, dass „Familie“ auch unter ganz besonderen Bedingungen sehr gut funktionieren kann. Das hat uns Mut gemacht, an eine Normalität mit dem Rett – Syndrom zu glauben. Und heute wissen wir, dass das auch geht.

Für uns war es immer wichtig, Julius möglichst wenig mit Marlenes Terminen zu belasten. Deshalb habe ich in den ersten Jahren möglichst alle Therapie – und Arzttermine in den Vormittag gelegt während Julius im Kindergarten war. Zusätzlich habe wir uns Hilfe beim familienentlastenden Dienst geholt. Wir haben das Glück, zwei sehr nette Betreuerinnen gefunden zu haben, die sich liebevoll um Marlene kümmern, während ich mit Julius etwas alleine unternehme. Wir haben auch immer mal einen Papa – Julius Tag eingelegt, damit Julius nicht immer Rücksicht auf seine Schwester nehmen muss. Zusätzlich hat mein Vater seine Unterstützung angeboten; wenn er kommt, unternimmt er etwas Besonderes mit seinem Enkel. Eine große Entlastung ist auch die Hilfe, die wir durch meine Schwester und ihren Mann erfahren. Beide nehmen sich Zeit für unsere Kinder, damit sich Ulli und ich auch mal Zeit für uns nehmen können. Diese Erholungsphasen sind für uns beide unheimlich kostbar und wir sind dafür sehr dankbar.

 

Bis jetzt tragen unsere Bemühungen Früchte: Julius liebt seine Schwester und ist überhaupt nicht eifersüchtig. Er nimmt sie völlig in ihrer Art an und ist auch nicht sauer, wenn sie ihn mal an den Haaren zieht oder mit Sabberhänden über das Gesicht streicht. Er ist gerne mit ihr zusammen und nennt sie liebevoll „Süße“.

Und Szenen wie diese, zeigen mir immer wieder, wie wundervoll Julius seine Schwester liebt und akzeptiert:

 

Eine Sternschnuppe für Marlene:

 

Julius, Marlene und ich frühstücken.
Ich: " Na komm Marlene, du musst noch ein bisschen was essen; im Kiga gibt es erst um 11 Uhr wieder was."
Julius: "Ich kann im Kiga immer was essen. Ich hab ja was in meiner Tasche und das kann ich mir dann holen. Marlene, du hast ja auch was in deiner Tasche. Aber du kannst ja erst um 11 Uhr was essen."
Julius fordert mich auf: " Mama, sprich doch mal die Marlene"
Marlene (ich):" Ja ich habe auch immer was in meiner Tasche, aber ich muss warten."
Julius: "Ja, weil du ja auf einen Helfer warten musst."
Marlene: "Ja genau, und dass nervt mich auch manchmal ganz schön."
Julius: „Ja, aber du kannst das halt nicht alleine, weil deine Hände nicht richtig funktionieren. Das kannst du dir ja mal wünschen - aber das geht halt nicht so einfach.“
Marlene: "Ja, das ist leider so."
Julius: "Da müssen wir uns halt mal ganz lang ans Fenster setzten und rausschauen."
Marlene: "Warum?"
Julius: "Weil dann die Sternschnuppen kommen und dann wünschen wir uns, dass deine Hände richtig funktionieren und dann geht das in Erfüllung!"
Marlene: " Das machen wir!!!"

 

Kurze Freude

Als ich erfahre, dass Marlene im Kindergarten meiner Wahl einen Platz erhält, erzähle ich Julius voller Freude, dass Marlene jetzt auch bald in den Kindergarten gehen kann. Er jubelt laut und meint: „Klasse, dann kommt die Lene zu mir in die Gruppe und wir können endlich spielen!“ Meine Freude ist mir im Hals stecken geblieben, weil ich ihm dann erklären musste, dass das nicht geht, weil doch Marlene nicht laufen kann und in seiner Gruppe so wenig Platz ist…Er war sehr traurig. Noch Wochen später beschäftigt ihn dieses Thema. Er fragt mich nach einiger Zeit, ob Marlene nicht ein bisschen später in seinen Kindergarten kommen kann, wenn sie dann groß genug ist. In seiner Vorstellung ist Marlene nur „anders“, weil sie jünger ist, nicht weil sie so viele Dinge nicht kann, wie Gleichaltrige. Julius zieht noch keine Vergleiche. Ich habe ihm dann erklärt, dass Marlene verschiedene Dinge nicht so gut kann, weil bei ihrer Entstehung in meinem Bauch der Bauplan nicht richtig war. Es ist etwas durcheinander gekommen. Das konnte er gut akzeptieren.

 Der göttliche Bauplan

Vor ein paar Wochen fragt mich Julius: „ Sag mal, der Gott hat uns Menschen doch gebaut, oder?“ Ich meine, dass man das so ungefähr sagen kann. Darauf meint Julius, dass der Gott das bei Marlene nicht gut gemacht hat, da hat er in seinem Bauplan einen Fehler gemacht.

 

Wenn schon – denn schon

Einige Zeit später schaue ich mir mit Julius einen Katalog mit Rollstühlen an. Ich erkläre ihm, dass wir so einen Rollstuhl mal für Lene brauchen, wenn sie größer ist und nicht mehr in den Buggy passt. Er schau sich die verschiedenen Modelle an und meint dann: „ Mama, wir nehmen dann den elektrischen, der geht einfacher!“ Wie recht er doch hat…

Schwierige Berufswahl

Eines morgens, kurz bevor wir uns auf den Weg in den Kindergarten machen, fragt mich Julius: „Mama, was kann denn die Lene mal werden?“ Puh – denke ich eine schwierige Frage zu so früher Tageszeit. Ich weiche aus und sage, dass wir Lene das mal fragen müssen. Dann frage ich ihn, was er denn glaubt, was Lene gerne werden möchte. Er überlegt kurz, und meint dann: Tierärztin. Weil eine Ärztin ist ja eine Frau und Marlene wird ja auch mal eine Frau. Klingt logisch. Ich meine dann, dass Marlene dann mal sehr viel lernen muss und mal sehen, ob das so klappt. Julius überlegt wieder und meint dann: „Ja, aber das ist ein bisschen schlecht, weil Lene doch nicht laufen kann und mit einem Rollstuhl kann man nur schwer Tierärztin werden." Ja, da muss ich ihm zustimmen. Er überlegt dann wieder und meint schließlich: „Ach was, dann soll die Lene einfach abhängen und faulenzen – das ist ja auch schön!“ Und ich kann wieder nur zustimmen, mit einem breiten Grinsen im Gesicht.

 

Gemeinsamer Spaß auf der Terasse

Szenen wie diese zeigen mir immer wieder, dass ich mir nicht ständig den Kopf zerbrechen muss, wie ich meinem Sohn möglichst pädagogisch erkläre, dass Marlene behindert ist. Er hat ein gutes Gespür dafür, dass etwas nicht so ganz stimmt und das ist für ihn kein Problem. Es ist für ihn normal, dass „etwas anders“ ist. Er geht ganz unbefangen mit diesen besonderen Umständen um und ist in seinen Gedanken ganz pragmatisch („ dann nehmen wir halt den elektrischen…“). Und das finde ich wunderbar.

 

Wir sind sehr froh, dass wir unseren großen Wirbelwind und unseren kleinen Sonnenschein haben. Julius zwingt uns immer wieder zu mehr „Normalität“. Er bringt für uns und seine Schwester „Leben in die Bude“; und das ist gut so. Es ist für uns ein kleiner Trost, dass Marlene außer uns beiden Eltern noch eine weitere (junge) enge Bezugsperson hat. Aber wir sehen es auch als große Aufgabe für uns, Julius nicht zuviel Verantwortung für seine Schwester aufzubürden. Unser größter Wunsch ist, dass sich die beiden auch in Zukunft so wunderbar verstehen. Die Zeichen dafür stehen schon mal gut…


Literaturempfehlungen:

  • Geschwister behinderter Kinder, ifb Staatsinst. für Familienforschung an der Uni Bamberg, Heinrichsdamm 4, 96047 Bamberg
  • Mein Kind ist fast ganz normal, Nancy B. Miller, Thieme Verlag ISBN 3-89373-392-2

 

  • Meine Schwester ist behindert, (Dieses Buch ist für Kinder geschrieben) Ilse Achilles und Karin Schliehe, Bundesvereinigung Lebenshilfe für geistig Behinderte e. V. ISBN 3-88617-032-2

Christiane Dieckmann, 2006

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