Wie könnten Kinder und Jugendliche ohne Lautsprache das Lesen und Schreiben lernen?
Im folgenden Beitrag möchte ich den Begriff des „Schriftspracherwerbs“ erläutern und dem normalen Verlauf dieser Entwicklung den Besonderheiten bei fehlender Lautsprache gegenüberstellen. Im Anschluss daran möchte ich auf die Bedingungen und Umstände eingehen, die das Rett-Syndrom mit sich bringen.
Mehrfachbehinderung – Lesen/Schreiben – Warum denn das?
Viele Eltern und Pädagogen, die Kinder und Jugendliche kennenlernen, die von einer schweren Mehrfachbehinderung betroffen sind, die oftmals mit gravierenden Kommunikationsstörungen und dem Fehlen der Lautsprache einhergehen, stellen sich erst gar nicht die Frage „wie“ das Kind/der Jugendliche Lesen und Schreiben lernen kann. Dieser Personengruppe unterstellt man fälschlicherweise oft, dass diese Lerninhalte keine Relevanz haben. Sehr schnell und über Jahre hinweg beschränkt man sich, und damit auch das zu fördernde Kind, auf sog. „Basale Bedürfnisse“: darunter versteht man grundlegende Bedürfnisse wie Nahrungsaufnahme, Entspannung, Anregung und Kommunikation. Bei der Suche nach einem geeigneten Förderansatz, der oftmals schon am geeigneten Diagnostikum scheitert, verliert man allzu schnell den Blick für die normale Entwicklung und damit auch die normalen, sprich altersgemäßen Bedürfnisse und Interessen.
Dr. Barbara Ezawa (5) schreibt dazu: “Die wichtige Frage nach dem Beginn der schriftsprachlichen Förderung beantwortet man heute nicht mehr mit Hilfe von Tests, die Hilfsfunktionen wie die visuelle und auditive Unterscheidungsfähigkeit überprüfen. Der Grund hierfür ist die Fähigkeit des menschlichen Intellekts zur Kompensation, also die Möglichkeit, Leistungen, wie das Lesen und Schreiben, zu denen viele Komponenten beitragen, auf unterschiedlichen Wegen zu erwerben. Richtiger ist es, einfach anzufangen und sich dabei am Interesse des Kindes zu orientieren“. Mit dieser Aussage will uns die erfahrene Autorin Mut machen, den eigenen positiven Beobachtungen zu trauen und eingefahrene Wege zu verlassen. Es ist also nicht nötig, dass ich zunächst versuche, mit Tests die Ausgangslage möglichst genau zu erfassen, um dann mit der Förderung im Bereich des Lesens und Schreibens zu beginnen. Vielmehr geht es darum, sich an den ersten Schritt, den ersten Buchstaben zu trauen. Natürlich darf dabei nicht die vorhandene Beeinträchtigung außer acht gelassen werden; gravierende Sinnesbeeinträchtigungen im Bereich des Sehens und Hörens müssen bei der Auswahl des geeigneten Materials berücksichtigt werden.
Nicole von der Meulen (7) zitiert in ihrem Artikel drei Studien, die belegen, dass Entwicklungen im Bereich des Schriftspracherwerbs weniger von den kognitiven Möglichkeiten der Kinder abhängen, als
Viele Praxisberichte belegen, dass das Erlernen von Lesen und Schreiben sehr wohl auch ohne Lautsprache gelingen kann. Da sich der Schriftspracherwerb auch relativ unabhängig von der Intelligenz entwickeln kann, können auch Kinder mit einer geistigen Behinderung diese Fähigkeiten erlernen. Ob diese auch als Medium zur Verständigung genutzt werden können, hängt jedoch mit dem Ausmaß der intellektuellen Leistungsfähigkeit zusammen. Da diese jedoch in den wenigsten Fällen mit den heute zur Verfügung stehenden Diagnostika exakt ermittelt werden können, sollte jedes Kind die Möglichkeit der Auseinandersetzung mit Schriftsprache erhalten.
Auch wenn nur partielle Fähigkeiten erreicht werden können, wie zum Beispiel das Erlernen einzelner Buchstaben, macht der Lese- und Schreibunterricht bei allen Kindern Sinn, denn dadurch erhalten sie die Chance auf:
Ist der erste wichtige Schritt vollzogen, nämlich die Erkenntnis, dass Kommunikation und damit Unterstützte Kommunikation ein Bedürfnis und Anrecht aller Menschen ist, unabhängig vom Grad der Beeinträchtigung, ist die Schlussfolgerung, dass man sich am altersgerechten Interesse und der Entwicklung des Individuums orientiert, nur eine logische Konsequenz. Frau Anderlik (Montessoritherapeutin) geht in ihrer Therapie und Förderung immer von der altersgerechten Entwicklung aus und bietet den Kindern und Jugendlichen dementsprechende Themen und Inhalte an, unabhängig von der Art und dem Ausmaß der Beeinträchtigung. Deshalb bietet sie Kindern im Vorschulalter Buchstaben oder auch Mengen und Ziffern an, mit denen sich das Kind auseinandersetzen kann. Dazu ist natürlich Unterstützung und Führung notwendig.
Warum ist es nun für Kinder ohne Lautsprache besonders schwierig, das Lesen und Schreiben zu lernen?
Antje Eller zeigt in ihrem Artikel „Schriftspracherwerb bei Unterstützt Kommunizierenden“ (4) einige Aspekte auf, die diese Frage erklären. Sehr häufig gehen Einschränkungen im Bereich der Kommunikation mit weiteren Beeinträchtigungen und Hindernissen einher. Diese entstehen durch Störungen in den Bereichen der Motorik, Wahrnehmung oder auch der Kognition. Oft muss nicht nur die fehlende Lautsprache kompensiert werden, sondern viele weitere Fähigkeiten und Fertigkeiten, die sich Kinder im normalen Entwicklungsverlauf in der Regel „nebenbei“ aneignen. Dazu einige Beispiele:
Darunter versteht man die Fähigkeit eines Menschen, seine eigene Position im Raum zu erkennen und dies auch auf Gegenstände und Abbildungen übertragen zu können (Erfahrungen mit Präpositionen – oben/unten/vor/nach/hinter/in….rechts/links).
Für das Lesen und Schreiben ist dies eine wichtige Voraussetzung, da Buchstabenformen in ihrer genauen Position wahrgenommen werden müssen („d“ und“ b“). Kinder ohne motorische Einschränkungen lernen diese Voraussetzung auf vielfältige Weise beim Spielen: Bauen und Konstruieren mit Bausteinen oder Lego, Puzzel, Malen, Basteln, Falten. Wenn Kinder mit körperlichen Einschränkungen Erfahrungen in diesem Bereich sammeln, dann meist nur mit Hilfe von Führung oder durch Beobachtung. Die Häufigkeit solcher Erfahrungen ist dann natürlich erheblich reduziert.
Vor allem beim Vorlesen erleben Kinder, dass Schrift aus immer wiederkehrenden gleichen Schriftzeichen besteht, die in unserem Kulturkreis immer von links nach rechts und von oben nach unten ausgerichtet sind. Kindern mit Ataxien, unwillkürlichen Augenbewegungen oder auch wechselnden Linsenakkomodationen fällt dies besonders schwer.
Damit das Schreiben richtig funktionieren kann, müssen die Augen die Ausführungen der Hände ständig kontrollieren. Das Gehirn erhält permanent Informationen, die es weiterverarbeitet und dann wiederum Rückmeldung an die Handmotorik weiterleitet. Dies ist ein ständiger Kreislauf, der sehr störanfällig ist. Kinder üben das in der Regel bei allen Spielen, die sie mit Hilfe der Hände ausführen: Malen, Bauen, Basteln etc.
Kinder mit Einschränkungen im Bereich des Sehens, der Motorik oder auch der taktilen Wahrnehmung haben bei diesen Spielen erhebliche Probleme oder sind gar nicht in der Lage, sich mit solchen Dingen zu beschäftigen. Viele Erfahrungen fehlen.
Um kommunizieren zu können, müssen die Kommunikationspartner über ein gegenseitiges verständliches Begriffs – und Symbolsystem verfügen. Kinder lernen dies vor allem in Rollenspielen und im aktiven Umgang mit der Umwelt (Als – ob – Handlungen, Nachfragen, Erkunden, Experimentieren). Kinder, die unterstützt kommunizieren, benötigen dazu oft die Hilfe durch Gebärden, Gegenstände, Fotos etc. und die Bereitschaft des Umfeldes, die Rolle des Erkunders mit zu übernehmen.
Antje Eller betont jedoch in ihrem Artikel, dass die beschriebenen Fertigkeiten den Schriftspracherwerb zwar begünstigen, aber keine zwingende Notwendigkeit sind. Viele dieser Voraussetzungen können sich auch im Laufe der Auseinandersetzung mit der Schrift entwickeln.
Eine große Bedeutung hat der Umgang mit Sprache und die Erfahrungen damit, die man einem Menschen anbietet. Oft gerät der natürliche Kommunikationsprozess ins Stocken, sobald eine offensichtliche Beeinträchtigung vorliegt. Antje Eller zitiert eine Studie von Gipe et al (1993/318), die die Schwierigkeiten von „nichtsprechenden“ körperbehinderten Kindern weniger auf die kognitiven Defizite zurückführt, sondern besonders auf ihre fehlenden oder eingeschränkten Kommunikationsmöglichkeiten.
Auf den Schriftspracherwerb und die Besonderheiten bei fehlender Lautsprache möchte ich nun im Folgenden eingehen.
Begriffsklärung: Phonologische Bewusstheit --- Literacy --- Schriftspracherwerb (SSE)
Diese drei Begriffe tauchen immer wieder auf, wenn es um das Erlernen von Lesen und Schreiben geht.
Unter Phonologischer Bewusstheit versteht man Vorerfahrungen, die Kinder im Laufe ihrer Entwicklung im Umgang mit Sprache und Schrift machen. Dazu gehören:
Untersuchungen bei sprechenden Kindern ergaben, dass Kinder, die wenige Erfahrungen im Bereich der Phonologischen Bewusstheit haben, das Lesen und Schreiben signifikant langsamer und schwerer lernen. In vielen Kindergärten wird deshalb seit einigen Jahren das „Würzburger Programm“ durchgeführt, das genau diese Fähigkeiten schult. Mit Hilfe eines Trainingsplanes, der auf 20 Schulwochen angelegt ist, werden täglich kurze Übungen (etwa 15-20 Minuten) durchgeführt, die die Kinder schrittweise über intensives Lauschen (ein versteckter Wecker klingelt im Raum, Geräusche erkennen und erzeugen) bis zur Phonemanalyse (Bei welchem Wort hörst du ein „A“?) heranführen.
Die Phonologische Bewusstheit ist in den letzten Jahren in aller Munde und mittlerweile gibt es auf dem Markt viele Materialien zum Bereich des Testens und Förderns, allerdings gibt es kaum Berichte und Praxisbeispiele, die sich mit der Umsetzung dieser Inhalte im Bezug auf die Unterstützte Kommunikation beschäftigen. Dies könnte auch daran liegen, dass einige Studien nachweisen konnten, dass die Phonologische Bewusstheit bei Kindern ohne Lautsprache kein so starker Indikator für die Leseleistungen ist, wie das bei sprechenden Kindern der Fall ist. Da Kinder ohne Lautsprache nicht auf die auditive Kontrolle durch das Sprechen zurückgreifen können, könnte es sein, dass sie dies durch visuelle und taktile Übungsmöglichkeiten ausgleichen. Übungen aus den verschiedenen Bereichen der Phonologischen Bewusstheit, wie Lauschen oder auch Erfahrungen mit Reimen ist sicher für alle Kinder im Vorschulbereich eine sinnvolle Begegnungsform mit Sprache, aber sie ist keine Ausgangsbedingung. Es ist also nicht nötig, zuerst alle Bereiche der Phonologischen Bewusstheit zu beherrschen, um dann mit dem eigentlichen Lese – und Schreiblernprozess zu beginnen.
Eine weitere Erklärung für die geringe Präsenz des Begriffes „Phonologische Bewusstheit“ könnte der neuerdings häufigere Gebrauch des Begriffes „Literacy“ sein, den ich im Folgenden erläutern möchte.
Literacy im engeren Sinne wird mit dem Begriffe Schriftspracherwerb übersetzt. Da dieser von einigen Autoren als Prozess verstanden wird, der von Geburt an beginnt, gibt es auch für Literacy eine weiter gefasste Auslegung.
„Literacy ist mehr als nur Lesen und Schreiben zu können. Es bedeutet auch, gerne den Worten anderer zuzuhören und Geschichten zu genießen, wenn sie jemand vorliest. Lernen, Bücher zu mögen und die Welten, die sich durch Bücher eröffnen, gehören ebenso dazu. Es ist ein Weg soziale Zugehörigkeit zu Freunden und Mitschülern bei gemeinsamen schriftbezogenen Aktivitäten zu erleben. (…) Wenn wir verstehen, dass jedes Kind zu einem gewissen Grad Literacy – Fähigkeiten erwerben kann, wenn Gelegenheit und Teilhabe gewährleistet werden.“ (8)
Unter dem Begriff Schriftspracherwerb (= SSE) versteht man die Fähigkeit, sich das Lesen und Schreiben anzueignen. Man konnte beobachten, dass sich dieser Prozess in verschiedenen Phasen vollzieht: mit dem ersten Kritzeln und „so – tun –als- ob“ – Lesen beginnt und sich bis hin zum Erwerb orthografischer Regeln und dem automatisierten Lesevorgang entwickelt.
Bei weiter gefassten Definitionen (siehe auch Literacy) geht man heute davon aus, dass der SSE ein Prozess ist, der mit der Geburt beginnt und sich ein Leben lang weiterentwickelt.
In meinem Beitrag werde ich den Begriff SSE verwenden, unter dem ich den umfassenden Lese – Schreiblern- Prozess verstehe, der mit der Kommunikation beginnt, Vorerfahrungen mit Sprache in geschriebener und gesprochener Form einschließt und schließlich im eigenständigen Lesen und Schreiben zum Zwecke des Ausdrucks mündet.
Wie wirkt sich die Diagnose Rett – Syndrom auf die Voraussetzungen zum Schriftspracherwerb aus?
Mädchen mit dem Rett – Syndrom werden meist nach einer normalen Schwangerschaft und Entbindung als gesunde Säuglinge wahrgenommen. In dieser Zeit erleben sie in der Regel einen völlig normalen kommunikativen Umgang: Laute und Schreien werden je nach Ausprägung interpretiert, die Bezugspersonen suchen den Augenkontakt, Reaktionen werden gespiegelt, das erste Lachen erzeugt große Freude, altersgemäße Fingerspiele und Lieder in Reimform mit vielen Wiederholungen werden zusammen durchgeführt, entwicklungsangemessenes Spielzeug zum Hantieren und Erforschen wird bereitgestellt, erste Bücher werden vorgelesen etc. Mit dem Einsetzen der ersten Symptome beginnt die Verunsicherung; bei manchen verzögert sich zunächst die Entwicklung bei andern werden sehr schnell Rückschritte erkennbar; Abweichungen von der Norm sind nicht mehr zu übersehen. Folgt dann die Diagnose „Rett – Syndrom“ fragen sich viele Eltern, was können wir tun, wie und was können wir fördern, was macht einen Sinn.
Therapieplanung und Pflege drängen sich immer mehr in den Vordergrund und verstellen oftmals den Blick auf das Alter und die damit verbundenen natürlichen Interessen des Kindes. Da die Mädchen oftmals durch ihre Stereotypien an sinnvollen Handlungen gehindert werden und bei den meisten Kindern die Lautsprache ausbleibt, verändert sich auch der kommunikative Umgang mit den Kindern. Oft wird über, aber nicht mit den Kindern gesprochen, weil der Aufbau eines gemeinsamen Kommunikationssystems fehlt. Kinder, die sich nicht mit Hilfe der Lautsprache äußern können, und sonst keine Möglichkeit haben, Wünsche einzufordern, sind darauf angewiesen, dass sich das Umfeld bemüht, altersgerechte Spiel – und Anregungsmöglichkeiten zu bieten. Petra Hämisch, deren Tochter mit Hilfe gestützter Kommunikation spricht, hat mir in einem Gespräch berichtet, dass ihre Tochter von der zunächst falschen Diagnose „Autismus“ sehr profitiert hat, weil die Tochter in dieser Zeit mit altersgemäßem Spiel – und Lernmaterial gefördert wurde. Bei autistischen Kindern geht man von einer durchschnittlichen oder sogar überdurchschnittlichen Intelligenz aus und bietet dementsprechendes Material an. Gerade für Kinder, die über keine Lautsprache verfügen und zusätzlich körperliche Beeinträchtigungen haben, ist die Gefahr der Unterforderung besonders groß.
Eine besonders wichtige Bedeutung kommt dem Aufbau eines angemessenen Kommunikationsangebotes zu. Mit Hilfe der gesamten Palette, die die Unterstützte Kommunikation bietet (Mimik, Gestik, Gebärden, Blicke, Symbole, elektronische Hilfsmittel Sprachausgabegeräte/Talker) muss ein auf die Person individuell abgestimmtes Kommunikationssystem erarbeitet werden.
Da Mädchen mit dem Rett – Syndrom sich sehr unterschiedlich entwickeln, ist es schwer, die Aspekte hervorzuheben, die für alle Mädchen von Bedeutung sind. Dennoch möchte ich eine kurze Auflistung wagen, die verdeutlichen soll, warum es für diese Mädchen besonders schwer ist sich auszudrücken:
Stereotypien:
Viele Mädchen haben sehr ausgeprägte Handstereotypien. Waschen, Kneten oder auch Finger und ganze Hände in den Mund zu stecken, sind ein so starker Drang, dass die Aufmerksamkeit vollkommen gebunden ist. Die Unterbrechung dieser Bewegungen fordert von den Mädchen sehr große Energie. Berührungen durch andere Personen oder das zeitweise Tragen einer Armschiene können helfen, diese Bewegungen etwas abzumildern, sodass sich die Aufmerksamkeit auf etwas anderes richten kann.
Apraxie:
Darunter versteht man die Störung von Handlungen und Bewegungsabläufen und das Unvermögen, mit Gegenständen sinnvoll zu handeln, obwohl die Bewegungsfähigkeit und Wahrnehmung nicht gestört ist. Die Mehrzahl der Mädchen, die ich bis jetzt kennenlernen durfte, konnten ihre Hände nicht oder nicht mehr sinnvoll einsetzten. Mit großem Übungsaufwand gelingt es jedoch einigen, selbständig aus einem Glas zu trinken oder auch die Seiten eines Buches umzublättern.
Die Einschränkungen im Bereich der Handmotorik wirkt sich auf alle Lebens – und Erfahrungsbereiche aus. Erfahrungen, die gesunde Kinder im Spiel sammeln können, die sie dann später mit Hilfe der Sprache umsetzen und erweitern können, müssen viele Mädchen durch Zusehen und Zuhören erfahren. Für Mädchen mit dem Rett – Syndrom ist es deshalb besonders wichtig, dass ihnen Erfahrungen im gemeinsamen Handeln (Führen nach Affolter) und auch durch Bild – und Sprachangebote ermöglicht werden.
Ataxie:
Darunter versteht man die Störung von Bewegungsabläufen. Arme und Beine führen oft unwillkürliche Bewegungen durch oder verfehlen das gerade noch angesteuerte Ziel. Mit diesen Voraussetzungen ist es natürlich besonders schwer, eine Bildkarte auf dem Tisch oder ein Feld auf einem Bildschirm zu erreichen. Oft geht der Bewegung ein kurzer Blick voraus.
Visuelle Einschränkungen:
Wie bei allen gesunden Kindern ist es dringend anzuraten, die Sehschärfe der Kinder schon im Kleinkindalter zu überprüfen. Oft wird eine Fehlsichtigkeit nicht erkannt, die erhebliche Einschränkungen zur Folge hat. Bild- und Wortmaterial müssen in entsprechenden Größen und ausreichendem Kontrast angeboten werden. Bei vielen Mädchen kann man beobachten, dass sie den Blickkontakt zu Gegenständen oder auch Menschen nur für sehr kurze Zeit aufrecht erhalten. Das Verfolgen von bewegten Gegenständen gelingt oft nur sehr eingeschränkt. Die visuelle Wahrnehmung (die Verarbeitung des Gesehenen) kann jedoch völlig normal entwickelt sein. Oft erkennen die Mädchen Bilder blitzschnell und zeigen das mit einem sehr kurzen Blick. Die gute Beobachtungsfähigkeit der Kommunikationspartner ist hier von großer Bedeutung.
Eine weitere Besonderheit, die sich bei vielen Mädchen mit Rett – Syndrom beobachten lässt, ist das „periphere Sehen“. Angelika Koch beschreibt dieses Phänomen in ihrem Buch „Nicht ohne Sprache“ folgendermaßen: „Die Mädchen mit Rett –Syndrom haben eine besondere Art, ihre visuelle Wahrnehmung zu „entschärfen“. Scheinbar ist der Reiz, der durch etwas Interessantes ausgelöst wird, so stark, dass die Wahrnehmung geschwächt werden muss. Julia löst diese Problem, indem sie woanders hinschaut und das eigentlich Interessante dadurch an den äußeren Rand ihres Gesichtsfeldes rückt“. (S. 22) Für ungeschulte Kommunikationspartner kann diese Wegschaureaktion schnell falsch gedeutet werden und zum Abbruch der Kommunikation führen. Wegschauen bei Mädchen mit Rett – Syndrom kann situationsabhängig als verstärktes Interesse gedeutet werden und darf nicht sofort als Ablehnung oder Desinteresse interpretiert werden.
Ich habe bei unserer Tochter im Alter von 18 Monaten sehr ähnliche Erfahrungen gemacht. Marlene hat zu dieser Zeit kleine Brotstücke vor sich auf dem Tisch kurz anvisiert, dann den Blick zur Seite gewandt und dann ohne weiteren Blickkontakt zum begehrten Objekt zugegriffen. Meist hat sie dann ihr Ziel erreicht. Dennoch ist durch dieses Verhalten eine gezielte Auge – Handkoordination unmöglich.
Spastik:
Unter Spastik versteht man einen vermehrten Muskeltonus. Dieser führt in vielerlei Formen zu Veränderung der Muskulatur und den damit verbundenen Sehnen und Bänder. Der Körper wird in physiologisch ungünstige Positionen gezwungen, aus denen sich der Betroffene nicht aus eigener Kraft lösen kann. Die richtige „Lagerung“ im Liegen und Sitzen sowie das richtige Stehen ist von großer Bedeutung für die Aufmerksamkeit (Hören und Sehen). Um richtig reagieren zu können (z. Bsp. um einen Taster, ein Feld auf einem Talker auslösen zu können oder auf eine Symbolkarte zeigen/schauen zu können) muss eine möglichst gute Position gefunden werden. Das Auftreten von Spastiken ist bei den Mädchen mit Rett – Syndrom sehr unterschiedlich.
Keine Imitation:
Die meisten Mädchen mit Rett-Syndrom ahmen Bewegungen, Gesten, Laute oder ähnliches nicht nach.
Die Ursache dafür ist sicher in den bereits beschriebenen Problemen zu suchen, völlig geklärt ist diese Tatsache jedoch nicht.
Erwartungshaltung:
Angelika Koch beschreibt in ihrem Buch „Nicht ohne Sprache“ sehr deutlich, wie negativ sich die eigene Erwartungshaltung auf die Reaktionen ihrer Tochter auswirkt. Die „hohe Kunst“ des richtigen Forderns und Fragens besteht in „der Gratwanderung, die Erwartungshaltung einerseits abzuschalten, andererseits aufmerksam zu sein, um die Antwort wahrzunehmen“ (14, S. 33)
Mit dieser (unvollständigen) Aufzählung wollte ich auf die möglichen Probleme aufmerksam machen, die bei der Anbahnung von Kommunikationsformen und auch dem Schriftspracherwerb, der damit eng verbunden ist, aufzeigen.
Kommunikationsförderung ist gleichzeitig auch immer Förderung der kognitiven Fähigkeiten (Merkfähigkeit, Erkennen von Zusammenhängen = Ursache-Wirkung, Begriffsbildung, etc.). Über die Kommunikation und vor allem das Versprachlichen von Handlungen und das laute Interpretieren von Reaktionen („Du klopfst mit deiner Hand auf den Tisch – Du sagst mir: Durst – Ich habe durst.“) erfährt das Kind/die Person die Bedeutung der gesprochenen Sprache. Handlungen und Sprache können so verknüpft und verstanden werden. Ein weiterer Schritt ist nun die Verbindung der gesprochenen Sprache mit der geschriebenen Sprache.
Bei dem erweiterten Begriff des Schriftspracherwerbs „Literacy“ geht man davon aus, dass schon frühe Begegnungen mit Sprache (Lautsprache) und Schrift von großer Bedeutung sind. Für Kinder mit dem Rett – Syndrom, die in der Regel die Lautsprache nicht oder nur in Ansätzen erlernen, ist es deshalb um so wichtiger, dass das Umfeld nicht ebenfalls „verstummt“ und den Zugang zu geschriebenen Medien vorenthält. Vorlesen, gemeinsames Lesen (ev. mit Hilfe des Bigmack oder Step by Step), Fragen stellen und Fragen ermöglichen (durch Symbole) sind hier von großer Bedeutung. Auch Bücher mit Puzzleelementen, oder Figuren, die in die jeweiligen Bilder eingefügt werden können, regen zum gemeinsamen Handeln und Sprechen an. Bei der Auswahl von geeigneten Büchern gibt es einige Kriterien zu beachten:
Diese Vielzahl an Besonderheiten erfordern eine individuelle Ausrichtung des Lese – und Schreiblehrgangs und eine große Kreativität.
So könnte der Anfang sein:
Selbst erstellte Bücher (auch als Powerpoint-Datei) sind sehr gut geeignet, um die ersten Begegnungen mit Wörtern/Buchstaben zu ermöglichen (Wichtig: Buchstaben immer Lautieren, d. h. ein „M“ wird als „mmmmm“ vorgelesen und nicht als „em“ - also nicht den Buchstabennamen wie im Alphabet benennen, sondern so, wie der Buchstabe im Wort klingt).
Fotos mit den ersten Wörtern (Name des Kindes, MAMA, PAPA, OMA…) eignen sich gut. Es ist auch sinnvoll, zunächst nur Großbuchstaben zu verwenden, da sich die Form der Groß – und Kleinbuchstaben oft erheblich unterscheiden (F/f, A/a; M/m). Somit muss das Kind am Anfang nur ein System lernen.
Bei der Einführung der ersten Buchstaben ist es wichtig, zunächst Laute zu wählen, die lange gehalten werden können (alle Vokale und Konsonanten wie S,M,F,L,R) und die sich im Klangbild deutlich unterscheiden, zum Beispiel: I und O oder M und A. Diese Laute haben auch ein sehr deutlich zu unterscheidendes Mundbild. Auch wenn die meisten unserer Mädchen keine Handzeichen imitieren, ist es sinnvoll, wenn wir diese zur Unterstützung anbieten (15). Wo es die Kinder zulassen, ist eine Handführung möglich.
Im ersten Schritt geht es um die Erfahrung, dass ein Bild (z. B. eine Maus) mit einem Laut („Ich höre /M/ am Anfang.“) und dem entsprechenden Buchstaben („M“) in Verbindung gebracht wird.
Verschiedene Begegnungsformen bieten sich an:
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Kinder sollten auf verschiedenste Weise Kontakt zu Schrift und Sprache erhalten, wobei das individuelle Interesse immer höchste Priorität hat. Bilderbücher sind oft auf jüngere Kinder ausgerichtet (Themen, Inhalte und Grafik), bieten aber eine der Größe und dem Umfang angemessene Bild – und Schriftwahl. Um dem Interesse älterer Mädchen gerecht zu werden, ist es sicher sinnvoll, die Materialien anzupassen oder selbst zu erstellen. Gute Ideen für elektronische Bilderbücher bietet das Internet (10) -- die Computerstimme ist jedoch etwas gewöhnungsbedürftig.
Nachdem die Verbindung der ersten Laute mit den entsprechenden Buchstaben gelungen ist, kann mit den ersten Versuchen der Lautsynthese (Verbindung zweier Laute zu einem Wort: aus „I“ und „M“ wird „IM“) begonnen werden. „IM, AM, UM“ könnten die ersten Wörter sein. Da diese Wörter Präpositionen sind, bietet es sich an, diese Begriffe spielerisch umzusetzen. Tiere, Puppen oder Gegenstände können je nach Wortwahl „IM Haus, IM Eimer, Im Topf“ etc. verschwinden, oder flitzen „UM“ etwas herum oder sitzen „AM“ Haus oder Ähnliches.
Aus den ersten Buchstaben lassen sich dann Silben bilden, die wiederum zu neuen Wörtern zusammengesetzt werden (MA-MA, MO-MO, MI-MI etc.)
Sind ein paar wenige Laute in der Anlautposition gesichert („A“ ist bei dem Wort „Ampel“ am Anfang zu hören) geht man nun dazu über, den Laut in der Mitte (= Inlaut) und am Ende (=Auslaut) herauszuhören.
A- Anlaut im Wort „Ampel“
A- Inlaut im Wort “Lampe“ (wichtig: Wörter ohne Mitlautverdopplung wählen, da der Vokal sonst kurz gesprochen wird; besser „Wal“ statt „Lamm“)
A- Auslaut im Wort „Zebra“
Bei der Einführung weiterer Buchstaben ist darauf zu achten, das die Laute möglichst unterschiedlich klingen. Also nicht „O“ und „U“ oder auch „T“ und „K“ gleichzeitig oder in kurzer Folge behandeln, sondern besser „I“ und „O“ oder „K“ und „R“.
Übungen zur Lautanalyse auf CD-Rom werden auch immer wieder zu verschiedenen Fibelwerken im Handel angeboten. Diese Programme kann man zusammen mit den Kindern mit Hilfe von „Ja/Nein“ Karten spielen. Leider sind die Übungen nicht nach Schwierigkeitsgrad unterteilt, so dass jeder Laut sofort im An-, In- und Auslaut geübt wird.
In den meisten Fibeln findet man eine Mischung aus Übungen zur Lautsynthese (aus Einzellauten wird durch Zusammenschleifen ein Wort) und zur Lautanalyse (aus einem Wort werden bestimmte Laute isoliert), bei der man von einfachen Ganzwörtern ausgeht. Oft sind das die Namen der Fibelhauptfiguren. Aber auch der Name des Kindes eignet sich besonders gut, weil dieser am vertrautesten ist.
Feste Regeln oder einen komplett geeigneten Lese – Schreiblehrgang gibt es in diesem Bereich nicht. Dieser wäre bei den sehr unterschiedlichen Voraussetzungen und Interessen der Kinder auch gar nicht sinnvoll.
Es wird immer darauf ankommen, die möglichst besten Voraussetzungen für jedes einzelne Kind zu schaffen, damit es einen Zugang zu Schrift und damit zu „Literacy“ bekommt.
Mit der richtigen Einstellung fängt alles an!
Die Erwartung des Umfeldes, der Eltern und Lehrer sind für den Erfolg des Lese – und Schreiblernprozesses (und nicht nur für diesen!) von großer Bedeutung; denn je nach Einstellung werden die Angebote gestaltet - vor der Schulzeit in Kindergarten und Elternhaus – und dann in der Schule und Werkstatt.
Dementsprechend kommen die Kinder mit unterschiedlichen Erfahrungen und Vorkenntnissen in die Schule.
Je nachdem, auf welche Ursache man fehlendes Grundwissen bezüglich Schrift und Sprache zurückführt, können sich zwei völlig unterschiedliche Folgerungen für die anschließende Förderplanung ergeben.
Stefanie Sachse (8) beschreibt die beiden Möglichkeiten, die sich aus diesen unterschiedlichen Einstellungen ergeben, folgendermaßen:
Diese Grafik macht deutlich, dass die richtige Einstellung/Interpretation und die daraus folgenden Angebote ausschlaggebend für Entwicklungsmöglichkeiten der Person sind. Dies trifft sowohl im Bereich der Unterstützten Kommunikation als auch auf den Bereich des Schriftspracherwerbs zu.
David Koppenhaver (12) kritisiert, dass im Bereich der Unterstützten Kommunikation basale Kenntnisse im Schriftspracherwerb als Endziel und weniger als Startposition gesehen werden. Er fordert deshalb ein Umdenken:
Nicht: „Sollen wir versuchen, der Person XY das Lesen und Schreiben zu lehren?“
Sondern: „Was ist für diese Person unter welchen Umständen am besten geeignet, damit er/sie lesen und schreiben lernt?“
Es sollte grundsätzlich nicht in Frage gestellt werden, ob Kindern/Jugendlichen der Zugang zu Schrift (und auch anderen Bereichen unserer Erfahrungswelt) ermöglicht wird, sondern „Wie“ dieser Zugang gestaltet werden muss, damit auch unterstützt kommunizierende Kinder/Jugendliche daran teilhaben können.
Ist diese Einstellung vorhanden, geht es darum, diesen Lerninhalten auch genügend Zeit einzuräumen. Es genügt sicher nicht, Lesen und Schreiben auf ein bis zwei Fördereinheiten in der Woche zu beschränken. Wenn man Regelschülern tägliche Übungen in den Kernfächern vorschreibt, kann man von Kindern mit besonderem Förderbedarf nicht erwarten, dass sie Lesen und Schreiben lernen, wenn dies nur vereinzelt auf dem Stundenplan auftaucht.
Stefanie Sachse formuliert ihre Ziele im Bezug auf den Schriftspracherwerb folgendermaßen:
Z: Zugang zu Büchern, Stiften, Buchstaben, Lauten, zu PC, Hilfsmittel etc. zu gewährleisten
I: Interaktionen in bedeutungsvollen Kontexten, mit Gleichaltrigen und Erwachsenen zu gestalten
E: Erwartungen und Vertrauen zeigen und
L: Lernangebote zu unterbreiten.
Nach gründlichem Studium der mir vorliegenden Literatur, den vielfältigen Erfahrungen, die ich mit unserer Tochter machen durfte, und den sehr unterschiedlichen Berichten von Eltern und Pädagogen, die sich mit Mädchen, die das Rett - Syndrom tragen, beschäftigt haben, steht für mich fest, dass ich den „Weg zur Schrift“ weiter gehen werde. Ob wir jemals gemeinsam bei einem Wort, einem Satz oder gar einem ganzen Buch ankommen werden, ist offen. Aber fest steht, dass wir auf keinen Fall ankommen können, wenn ich mich nicht gemeinsam mit Marlenes pädagogischen Begleitern auf diesen Weg begebe. Nur was wir Eltern, Pädagogen und Therapeuten unseren Mädchen anbieten und zutrauen, werden sie auch lernen können. Dieser Tatsache müssen wir uns bei der Planung einer angemessenen Förderung immer bewusst sein – eine große Verantwortung und Herausforderung, der wir uns stellen müssen!
Literatur:
Christiane Dieckmann, 2010