Keine ganz normale Familie


Unser Leben mit dem Rett – Syndrom

 

Über zehn Jahre ist die Veröffentlichung im Wirbelwind zu unserem Leben mit dem Rett – Syndrom nun schon her. Damals relativ „frisch“ nach der Diagnose konnten wir nur erahnen, welche Aufgaben und „Prüfungen“ uns bevorstehen.

 

Manche Kämpfe müssen wir auch heute noch immer wieder führen, andere Ängste lösen sich von ganz selbst in Wohlgefallen auf und bringen ungeahnte Erleichterungen, ja manchmal sogar ein Stück Freiheit zurück.

 

Was hat sich in den letzten 12 Jahren getan?

 

Marlene wurde 2 Jahre nach ihrem großen Bruder eingeschult. Während er ganz selbstverständlich in der Grundschule am Ort gehen konnte, wurde die Suche nach einer geeigneten Schule für Marlene für mich zu einem psychischen Kraftakt. Die „inklusiven“ schulischen Angebote waren für meine Tochter nicht geeignet. Mit der Diagnosestellung und dem ersten Infopaket, das uns damals Frau Ziegeldorf von der Elternhilfe zuschickte, legte ich den Schwerpunkt der Förderung für unsere Tochter fest: „Unterstützte Kommunikation“. Ohne „Unterstützte Kommunikation“ ist es für Marlene nicht möglich, sich in ihrer sprachlichen, kognitiven und sozialen Entwicklung zu entfalten. Also ging ich mit meiner Tochter auf die Suche. Als Sonderpädagogin mit mehr als 10 Jahren Berufserfahrung konnte ich mir relativ schnell und gut einen Überblick über das schulische Angebot vor Ort machen. Der Spießrutenlauf, der dann folgte, hat mich so viel Kraft gekostet, dass ich reif für eine mehrwöchige Kur war, um mich wieder zu erholen. Die Schulen, deren Konzepte „Unterstützte Kommunikation“ beinhalteten, nahmen Marlene nicht auf, da sie sich dem erheblichen Förderbedarf nicht gewachsen fühlten. Die Schule, die zuständig gewesen wäre, war aus unserer Sicht nicht geeignet und andere, geeignete Schulen konnten wir nicht in Anspruch nehmen, da entweder die Beförderung mit dem Schulbus nicht genehmigt wurde bzw. die Räumlichkeiten nicht für Rollstuhlkinder ausgelegt waren. Als letzte Möglichkeit nahmen wir dann die Einladung einer Förderschule mit dem Waldorfkonzept an. Und obwohl, sowohl mein Mann als auch ich, Berührungsängste mit der anthroposophischen Lebensweise hatten, wurden wir beim Vorstellungsgespräch angenehm überrascht. Auf einmal stand unsere Tochter als kleine, individuelle Person im Vordergrund und nicht ihre Behinderung oder das Rett – Syndrom. Wir wurden gefragt, ob wir uns diese Schule für unsere Tochter vorstellen könnten und nicht, ob unsere Tochter in diese Schule passt. Das war Balsam auf unsere Seelen. Und somit wurde unsere Tochter an einer Waldorfschule eingeschult. Leider war es dort nicht möglich, technische Hilfsmittel, die Marlene für die Kommunikation benötigt, im Unterricht zu integrieren. Und somit ging nach wenigen Jahren die Suche von vorne los. Nach einem Schulwechsel hatte Marlene das große Glück, auf eine Lehrkraft zu stoßen, die sie aus der Zeit der Frühförderung bereits kannte und die in ihrer Weiterqualifikation die Schwerpunkte „Sehen und Unterstützte Kommunikation“ hatte. Mit der Unterstützung dieser Lehrkraft gelang es schließlich, einen Talker für Marlene zu beantragen, den sie mit den Augen steuern kann. Damit war ein großer Schritt geschafft.

 

Marlene wird seit ihrer Einschulung durch eine Schulbegleitung unterstützt. Sie sorgt dafür, dass Marlenes Kommunikationsgerät(Talker, den sie mit den Augen steuert) im Unterricht immer richtig positioniert ist, hilft Marlene bei der Bedienung des Talkers, achtet auf Erholungsphasen, hilft ihr bei allen Bereichen des Lebens und Lernens. Diese schulische Begleitung ist für unsere Tochter sehr wichtig, sie hat eine anspruchsvolle – oft anstrengende Aufgabe, die leider viel zu schlecht bezahlt wird. Das ist auch ein Grund, weshalb diese Personen sehr häufig wechseln. Für unsere Tochter und uns ist das immer wieder sehr anstrengend; Marlene muss sich an eine neue Person gewöhnen – wieder beweisen, was sie kann, was sie versteht, was sie an Unterstützung benötigt, was sie alleine kann…und wir Eltern und auch die Lehrkräfte müssen immer wieder von Neuem erklären, in die Pflege einweisen (Korsett an – ausziehen, Orthesen, Talker bedienen, was ist Unterstützte Kommunikation, sondieren etc.) und Vertrauen aufbringen. Zurzeit hat Marlene das große Glück, eine Logopädin als Schulbegleitung zu haben. Die Fortschritte, die Marlene in den letzten Monaten dadurch macht, sind unglaublich. Nach einem erneuten Schulwechsel sind wir nun zuversichtlich, dass unsere Tochter in den letzten drei verbleibenden Schuljahren eine angemessene Förderung erhält.

„Schule“ ist nicht nur bei Marlene, sondern auch beim großen Bruder immer wieder ein Thema, dass uns bewegt. Die Sorgen und Ängste, die uns als Eltern immer wieder beschäftigen, gehen auch an ihm nicht spurlos vorbei. Er ist schon als kleiner Junge mehr auf das Wohl anderer Menschen bedacht, stellt seine Bedürfnisse ganz selbstverständlich hinten an, lernt nicht, auf sich selbst zu achten. Bis wir als Eltern das bemerken, dauert es fast zu lange und wir benötigen alle professionelle Hilfe, um das zu erkennen und einen Weg aus dieser Situation zu finden. Dass das gelungen ist, haben wir unserem familiären Netz und guten Therapeuten zu verdanken.

Marlenes Entwicklungsverlauf und den damit verbundenen Herausforderungen habe ich auch meinen beruflichen Werdegang zu verdanken. Ich habe 1989 in Würzburg Sonderpädagogik mit den Schwerpunkten Lern – und Sprachbehindertenpädagogik und auf dem „privaten Bildungsweg“ durch Marlene die Fachrichtungen Körper – und Geistigbehindertenpädagogik studiert. Aufgrund der Tatsache, dass sich sowohl die Bildungseinrichtungen (Frühförderstellen, Kindertagesstätten Förderzentren etc.), als auch die unterschiedlichen Therapeuten oftmals erst auf dem Weg zur Erarbeitung des Wissens im Bereich der „Unterstützten Kommunikation“ befanden, blieb mir nichts anders übrig, als mich selbst zur Expertin zu machen. Ich habe unterschiedliche Fortbildungen besucht und schließlich mit dem „Lehrgang Unterstützte Kommunikation“ (LUK) eine Ausbildung zur Kommunikationspädagogin absolviert. Kurz nach meinem Abschluss wurde ich schließlich selbst Referentin, unter anderem für diesen Lehrgang. Und vor drei Jahren wurde ich Schulleiterin an einer „Schule für Kranke“ in einer Klinik mit einer Abteilung für Kinder – und Jugendneuroorthopädie, wo ich schwerpunktmäßig Schüler mit Mehrfachbehinderungen unterrichte.

 

Das Rett – Syndrom stellt uns immer wieder vor Aufgaben, deren Lösung wir uns kaum vorstellen können. Mit etwa 11 Jahren hat Marlene mehrere Lungenentzündungen in rascher Folge. Da sie zusätzlich eine Skoliose hat, die ihren linken Lungenflügel einengt, kommt es immer wieder zu dramatischen Krankheitsverläufen. Lange Krankenhausaufenthalte mit mehreren Wochen Regenerationszeit zuhause sind nötig. Kaum ist Marlene gesund, kommt der nächste „normale“ Erkältungsinfekt, Marlene kann nicht mehr schlucken und wir sind wieder im Krankenhaus. Da sie aufgrund ihrer Epilepsie Medikamente nehmen muss, müssen wir sie zwingen zu schlucken. Ein Zustand, der darin gipfelt, dass Marlene zu weinen beginnt, sobald sie uns mit einem Becher sieht. Resigniert begeben wir uns wieder ins Krankenhaus und entscheiden uns, eine PEG – Magensonde legen zu lassen. Immer wieder haben wir uns über dieses Thema mit anderen Eltern unterhalten, die Ängste waren dennoch unglaublich groß: Wie verläuft die Operation? Ab diesem Zeitpunkt hat unsere Tochter immer ein Loch und einen Schlauch im Bauch…wird sie dabei Schmerzen haben? Wie verkraftet sie das? Wie schaffen wir die medizinische Versorgung? Wird Marlene dann gar nicht mehr mit uns zusammen essen? Beim Essen plaudern wir viel und oft mit dem Talker – fällt das dann auch weg? … All diese Bedenken haben sich zum Glück nicht bewahrheitet; im Gegenteil. Marlene geht es prima, sie isst immer noch sehr gerne mit uns zusammen und plaudert dabei mit ihrem Talker. Die Sondenversorgung haben wir gut im Griff und das Beste ist, dass Marlene seit dieser Operation nicht mehr wegen eines Infektes in Krankenhaus musste. Jetzt kann sie im Krankheitsfall immer ausreichend mit Medikamenten und Nahrung/Flüssigkeit versorgt werden, sie kann essen und trinken, wenn sie möchte und wir haben eine Alternative, wenn es eben nicht geht. Durch die Magensonde haben wir auch neue Freiheiten zurückbekommen, denn auch längere Zeit unterwegs sein ist jetzt kein Problem mehr. Mit etwas Flüssignahrung im Gepäck können wir auch wieder größere Ausflüge wagen.

Leider konnten wir einen weiteren operativen Eingriff, trotz intensiver Therapien und Korsett, nicht verhindern; Marlenes Skoliose schritt unaufhaltsam weiter bis schließlich eine Operation unumgänglich wurde. Wieder standen wir vor einer schweren Entscheidung: Wann soll unsere Tochter wo operiert werden? Wie organisieren wir die Begleitung in der Klinik und den Alltag zuhause? Wie bewältigen wir die Versorgung nach der Entlassung zuhause? Das alles war ein Kraftakt, vor dem wir großen Respekt hatten, aber vor allem stand die große Angst im Mittelpunkt, wie unsere Tochter diesen Eingriff übersteht. In einer fünfstündigen Operation wurden im November 2017 zwei Titanstäbe eingesetzt, die fast die gesamte Wirbelsäule versteifen. Und wieder waren wir überrascht, wie wunderbar sich diese Ängste in etwas Positives verwandelten. Marlene hat alles gut überstanden und in ein paar Wochen ist sie endgültig von ihrem Korsett befreit. Kein Zerren und Ziehen mehr, keine Druckstellen mehr, kein Hitzestau mehr…Auch für uns Eltern ist das eine große Erleichterung.

 

Erstaunlich sind auch immer wieder kleine Fortschritte, mit denen wir nicht gerechnet haben und für die wir unendlich dankbar sind. Marlene benötigt seit einiger Zeit weniger Medikamente für ihre Epilepsie, wodurch sie wacher und aufmerksamer ist. Und auch motorisch kommen einige, längst verlernte Fähigkeiten wieder zurück. So fordert sie zum Beispiel seit einiger Zeit ein, dass wir ihr die Gabel so am Tellerrand positionieren, dass sie sie selbst greifen und zum Mund führen kann. Es hat einige Zeit gedauert, bis wir ihre Signale richtig deuten konnten: „Lass mich das alleine machen – weg mit deiner Hand!“ Auch im Bereich der Kommunikation machen Marlene und wir weiter kleine Fortschritte. Mit ihrem Talker, den sie mit den Augen steuert, kann sie in guten Phasen im Restaurant ganz selbständig ihre Bestellung aufgeben. Das sind Momente, wo die ganze Familie fast platzt vor Stolz. Stolz sind wir auch auf unseren Sohn, der sich zu einem sensiblen, aufmerksamen jungen Mann entwickelt hat. Er packt ganz selbstverständlich zu Hause mit an, geht aber auch selbstbewusst seine eigenen Wege und verfolgt seine beruflichen und sportlichen Ziele mit großem Eifer.

 Die nächste Aufgabe, der wir uns in den nächsten Jahren stellen, ist die Frage, wie wir uns den Auszug unserer Tochter (Marlene ist jetzt 16 Jahre alt) vorstellen. Wir haben bereits mehrere Wohneinrichtungen zusammen mit unserer Tochter besucht und auch Kontakt zu anderen Eltern von Kindern mit Behinderungen aufgenommen, um ein „alternatives – ambulantes“ Wohnkonzept zu erarbeiten, bei dem unsere besonderen Kinder die Unterstützung bekommen, die sie benötigen und die Selbstbestimmung erhalten, die ihnen, wie jedem Mensch, zusteht. „Loslassen“ heißt für uns vor allem Vertrauen haben. Vertrauen in die Fähigkeiten unserer Tochter, die umfängliche und intensive Pflege und Betreuung benötigt, aber auch Vertrauen in fremde Personen, die diese Aufgabe übernehmen.

 

Für die meisten Eltern ist das Loslassen ein Prozess, der sich nicht ohne Ängste vollzieht, aber für Eltern mit einem Kind mit Behinderung fühlt es sich fast wie eine Amputation eines Körperteiles an. Damit das nicht so ist und man nicht lebenslänglich unter Phantomschmerzen leidet, braucht man gute Alternativen zur lebenslänglichen häuslichen Pflege oder erheblich mehr Unterstützung im Alltag, als es durch die Gesetzgebung und die Politik zurzeit gibt.

 

Wir könnten uns sehr gut eine Zukunft unter einem gemeinsamen Dach mit unserer Tochter vorstellen, denn Marlene bringt durch ihr strahlendes Wesen viel Sonnenschein in unseren Alltag, aber durch ihren umfänglichen Pflegebedarf auch erhebliche körperliche Anstrengungen. Psychische Belastungen entstehen bei uns nicht direkt durch unsere Tochter, sondern durch, mangelnde Unterstützung bzw. der erhebliche Aufwand, den wir betreiben müssen, damit wir die Entlastung erhalten, die uns zusteht. Zum Beispiel gibt es kaum geeignete Kurzzeitpflegeplätze für Kinder und Jugendliche. Betreuung für mehrere Tage bei uns zu Hause, die wir mit den Betreuungskräften, die wir vor Ort organisieren könnten, wird nicht als Kurzzeitpflege anerkannt und somit nicht finanziert. Das Budget aus Verhinderungspflege und dem sog. Entlastungsbeitrag reicht nicht aus, um Krankheitstage und ein Minimum an Freizeit zu finanzieren; auch weil der Entlastungsbeitrag in Bayern nur über Institutionen abgerechnet werden kann, was in der Regel teuer ist und somit unsere freie Zeit noch weiter einschränkt.

 

Für uns bedeutet das, dass wir nur eingeschränkt berufstätig sein können und damit erhebliche finanzielle Einbußen hinnehmen müssen. Da wir weder ein familiäres noch ein anderes Unterstützernetz für Notfälle vor Ort haben, ist es für uns normal, dass immer einer von uns Eltern abrufbar zur Verfügung steht.

 

Normal ist es für meinen Mann und mich auch, dass wir als gut eingespieltes Team aufeinander achten; jeder von uns benötigt seine Freiräume und Erholungsphasen, die wir uns gegenseitig ermöglichen. So geht mein Mann leidenschaftlich gerne mit seinen Modellflugzeugen ins Freie oder abends ins Kino und ich gönne mir Auszeiten mit Freundinnen und meiner Schwester. Normal ist für uns auch, dass wir Zeiten, in denen wir alle gesund sind und keine größere Aufgabe ansteht, sehr genießen.

 

Schön wäre es für uns, wenn wir in der Öffentlichkeit auch als „eine fast normale Familie“ wahrgenommen werden würden; die Blicke vieler Menschen, denen wir in der Öffentlichkeit begegnen, zeigen leider oft, dass das noch lange nicht der Fall ist.

 

Wir sind mit unserer Tochter, dem großen Rollstuhl, dem Talker – dem Gerät, das auch noch spricht und dem Schlauch, den wir ihr an den Bauch anstöpseln eben „eine ganz besondere Familie“ – ob wir das wollen oder nicht…

 

 

Christiane Dieckmann, 12/2018

 

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